Retreat

Regiedebütant Carl Tibbetts versucht sich mit klassischen Mitteln an einem klassischen Genre, dem Kammerspiel. Eine Mischung aus Psychoduell, Seelenstriptease und Paranoiabuffet vor dem Hintergrund eines möglichen Science-Fiction-Szenarios ist sein mit Jamie Bell und Cillian Murphy attraktiv besetzter Erstling Retreat geworden.

And there is no one else to go.

Story

Die Akademiker Martin und Kate verbringen ihren Urlaub auf der abgeschiedenen Insel Blackholme. Als einzige Menschen auf dem Brocken im Meer wollen sie ein paar Tage entspannen und sich an bessere Zeiten erinnern, um so nach einer Fehlgeburt ihre Ehe zu retten.
Es läuft nicht wie geplant. Das Pärchen scheitert an Harmonie, der Stromgenerator explodiert und anstatt des gemütlichen Doug, der für Personentransport und Reparaturarbeiten zuständig ist, kommt am nächsten Tag ein völlig Fremder und bricht ein paar Meter vor der gemieteten Hütte blutüberströmt zusammen. Kein guter Tag für zerstrittene Liebende.
Als die beiden ihn auf ihr Sofa hieven, ahnen sie noch nicht, wen und was sie sich ins Haus geholt haben. Der Verletzte erwacht und stellt sich als Jack Coleman vor. Er trägt eine Waffe, gibt vor Soldat zu sein und überrumpelt die beiden mit einer Nachricht, die zu schockierend scheint, um wahr zu sein. Jack verhält sich auffällig, wird zunehmend aggressiver und verbietet seinen Gastgeber, das Haus zu verlassen – der Sicherheit wegen.
Spricht er die Wahrheit oder handelt es sich um einen Kriminellen, der ein perfides Spiel mit dem Pärchen spielt?

Kritik

Das altbekannte Schema. Ein Fremder dringt in die private Sphäre und verhält sich auffällig, wobei der Film sich nicht ziert, das volle Programm abzuspulen. Dominantes Verhalten, verdächtige Sätze und ab und an ein irrer Blick, dazu Machtspielchen und cholerische Ausbrüche. Die Frage, ob er tatsächlich Soldat ist und  die Wahrheit spricht, oder ob es sich vielleicht doch um einen Irren mit Kontrollwahn und makabrem Masterplan handelt, steht im  Raum und drängt nach Beantwortung – doch egal, wie sie beantwortet wird, ein unsympathisches Ekel ist Jack ohnehin. Die Riege der hochcharismatischen Zwietrachtstreuer wird durch ihn nicht bereichert, aber das ist ja auch kein Muss.
Nur fehlt es auch den beiden Protagonisten an Ausstrahlung. Alle Figuren wirken auf ihre Weise kalt und kaum zugänglich. Das mag zu Seelenleben und Situation der Charaktere passen, macht es dem Zuschauer aber nicht leicht, um ihr Schicksal zu bangen. Unterkühlte Gestalten in einem unterkühlten Film, die etwas erleben, das normalerweise erst durch Erhitzung Spannung schafft.
Die Musik von Anfang und Ende strahlt eine bewegende Dramatik aus, die zwischen den ersten und den letzten Sekunden des tatsächlichen Filmes leider nicht so recht erbracht werden kann.

Retreat ist gut gespielt und schön gefilmt. Dafür einige Szenen sind zu lang und manche Bilder zu ereignisarm. Eine Stimmung der Beklemmung ist vorhanden, aber in der routinierten Verpackung wirkt das alles fast schon beliebig. Man kennt das Spiel an anderem Ort und die Figuren sind hinter dem guten Schauspiel von Murphy, Bell und Newton eigentlich sehr blasse Gesellen. Auch ihre Geheimnisse und Schattenseiten sind auf den ersten Blick nicht interessant genug, um tatsächlich mitzufiebern. Man schaut gerne hin, es ist gefällig, die Inszenierung ist erwähnt gut, wenn auch sehr unaufgeregt, das eigentliche Interesse regt sich aber kaum.
Richtige Spannung entsteht erst dann, wenn sich die Lage nach ziemlich genau einer Stunde verschlimmert, die Katze aus dem Sack zu sein scheint und man sich des eigentlichen Problems annehmen kann und muss. Das ist für einen solchen Film nicht sonderlich gut, denn es bedeutet, dass Zweidritteln von ihm verstrichen sind, bevor die Geschichte sich so warmgelaufen ist, dass sie den Zuschauer zum ersten Mal mitzunehmen vermag.
Nun mag man sagen, dass dieses Review hier gewissermaßen die Antwort auf die große Frage, die der Film stellt, im vorherein ausplaudert. Schließlich wäre Retreat nicht auf einer Science-Fiction-Seite zu finden, wenn sich zum Schluss herausstellt, dass der dubiose Eindringling tatsächlich nur ein Psychopath oder Gameshowmaster ist. Ein bisschen Zukunfts-Pandemie muss da schon drin sein.
Eigentlich aber ist der Ausgang der Story für die Kategorisierung unerheblich. So oder so arbeitet der Film mit der Zuschauererfahrung durch ähnlich geartete Filme und macht sich dieses mitgebrachte Vorwissen auch gekonnt zunutze. Man beobachtet das Treiben, studiert die Chemie zwischen den Charakteren und muss zwangsläufig mit Genregeschwistern vergleichen, um dann für sich und nach aktuellem Wissensstand zu beschließen, wie wahrscheinlich es ist, dass der Fremde falsches Spiel spielt und draußen eigentlich alles so paradiesisch wie eh und je ist. Gewisser Weise greifen die Zuschauer genauso wie Kate und Martin auf einen derartigen Wissenskorpus zurück und müssen auf seiner Basis entscheiden – nur dass hinzukommt (oder abgezogen wird, je nach Perspektive), dass sie nicht die Erwartung an eine Filmhandlung haben. Letztlich macht dies beim Abwägen der Möglichkeiten aber keinen nennbaren Unterschied.

Fazit

Eine Idee mit Potenzial, gute Schauspieler und ein friesisch-kalter Handlungsort. Eigentlich beste Voraussetzungen für erdrückende Atmosphäre und eiskalte Nervenreiberei. Dass der Film bis hin zu seinem Ende etwas zu routiniert abgespult wird und auch die Figuren zu beliebig angelegt sind, führt aber dazu, dass Retreat trotz guter Ansätze unterm Strich nur Durchschnittskost ist.

In Time – Deine Zeit läuft ab

Gattaca, Die Truman Show, Lord of War – Händler des Todes – Andrew Niccol hat Filme in seiner Vita stehen, die bereits heute morgige Klassiker sind. Nach Nicolas Cages erinnerungswürdigem Auftritt als Waffenhändler tat sich 6 Jahre lang gar nichts. Bis dann In Time – Deine Zeit läuft ab startete, bei dem der Neuseeländer als Regisseur und Drehbuchautor hervortritt und mit Justin Timberlake außerdem ein Publikum lockendes Pferd im Stall hat.

The time left town.


Story

In der Welt von Morgen hat ein Währungswechsel stattgefunden. Lebenszeit ist das Mittel der Zahlung. Jeder Bürger hat eine grüne Uhr in seinem Arm. Ab dem Alter von 25 beginnt sie rückwärtszulaufen, ein Jahr verbleibt dann noch zum Leben, während der Alterungsprozess des Körpers stoppt.
Wer länger sein will, muss hart arbeiten. Jeder Job bringt Zeit – aber jedes Getränk, jede Dienstleistung, jede Busfahrt kostet auch. Eigentlich sogar doppelt – die Dauer, die die Tätigkeit in Anspruch nimmt, und der veranschlagte Preis in Minuten, Stunden, Tagen oder Jahren für das jeweilige Gut. So wird Überbevölkerung vermieden. Steigt die Geburtenrate, werden einfach Preise erhöht und Löhne gesenkt, schon ist die Gesellschaft quantitativ wieder im Lot, weil die weniger gut Betuchten es nicht schaffen, ihr Konto auszugleichen und einfach auf der Straße verenden. Der Zeittransfer wird vollzogen, indem zwei Menschen einander die Uhren-Arme umfassen. Gut für unkomplizierte Transaktionen, gut für Verbrecher, die sich die verbleibende Lebenszeit Dritter mit Gewalt aneignen wollen.
Während in Ghettos um jeden Tag gekämpft wird und kaum einer mit der Gewissheit aufsteht, sich zum Abend wieder betten zu können, wird in den reichen Städten der Dekadenz gefrönt. Wer Erfolg hat, der kann sich ewiges Leben leisten.
Einer der Leute, die nie mehr als einen Tag auf ihrem Konto haben, ist Will Salas. Er kümmert sich um seine Mutter und schlägt sich durchs Leben, stets den eigenen Tod vor Augen. Einmal verschlafen und alles ist aus.
In einer Bar rettet er einen lebensmüden Aristokraten vor Zeitdieben. Und ehe er sich versieht, hat er mit einem Mal nicht nur 100 Jahre mehr auf der Uhr, sondern weiß auch um die furchtbare Wahrheit hinter dem Zahlungskonzept.

Story

So ungeheuer vielversprechend beginnt In Time! Pluspunkt Nummer eins ist das unverbrauchte Szenario. Zeit als Währung, ewig lebende Reiche, früh sterbende Arme und die ganze Welt dreht sich um nichts anderes als die Frage, wie man sich ein paar Stunden dazuverdienen kann. Zeit heißt nicht nur Leben, Zeit heißt Jugend und die Möglichkeit, sich etwas Ruhe zu gönnen.
Der Film erzählt dies alles in wenigen Momenten und startet sofort durch mit Zeithäschern, Sauftouren und Verfolgungsjagden in einem. Hauptcharakter Will stellt sich zwar nicht sonderlich weise an, die Inszenierung stimmt dafür aber durch und durch. Sogar die emotionalen Szenen sind so ergreifend wie gewollt und alles deutet darauf hin, dass sich aus der neuartigen Ausgangssituation ein rasantes, spannendes Sci-Fi-Filmchen entfalten wird. Ein Vergleich mit Michael Endes Momo liegt da natürlich nahe und wird anfangs auch kräftig unterfüttert. Die schummrige Atmosphäre, konspirativ dreinblickende Männer, die hüfttief in dunstiger Noir-Stimmung stehen und sicher nicht von ungefähr Assoziationen an die grauen Herren wachrufen und über allem das ubiquitäre Thema des Sparens von Zeit – inklusive der Moral, dass sinnloses Horten von Lebenspotenzial nicht gleich Leben ist.
Dabei muss aber auch gesagt werden, das In Time schon von Beginn an mächtig in die Vollen geht. Musik, Schnitt, Mimik der Figuren – all das ist einzig und allein darauf ausgerichtet, ein Höchstmaß an Dramatik zu generieren. Im ersten Drittel geht diese Rechnung auch voll auf und manchmal fühlt man sich durch die raschen Sprünge und das generell sehr hohe Tempo an Ohne Limit aus dem gleichen Jahr erinnert. Und das trifft auch auf den weiteren Verlauf zu, denn beide Filme kränkeln letztendlich an sehr ähnlichen Fehlgriffen.

Ab Minute 40 war es das dann nämlich mit den guten Vorsätzen. Plötzlich mutiert der Film zu einem Actionthriller und die interessant anlaufende Geschichte wird unvermittelt auf ein simples Arm-Reich-Dilemma runtergebrochen, bei  dem von Vornherein klar ist, wer Sanktion verdient hat.
Warum der Arbeiterjunge, der 28 Jahre lang nichts anderes konnte als Rennen, plötzlich zum Klassenkämpfer mit Green Beret -Fähigkeiten wird, ist nicht ersichtlich. Auch die nebulöse Stimmung bleibt auf der Strecke, denn plötzlich gibt es rein gar nichts mehr, das mysteriös ist. Es geht einzig um die verschlagene Oberschicht und die armen Unterdrückten, für die es einzustehen gilt. Dabei hätte man die Geschichte so interessant weitererzählen können.
Wie kam es dazu, dass Menschen mit ihrer Lebenszeit bezahlen? Befindet sich die der neonfarbene Countdown bereits von Geburt an am Arm? Wenn ja, wie kommt das? Wenn nein, wie und wann wird er implantiert und wieso versuchen Mütter nicht, ihren Säugling davor zu bewahren? Wer sind die wahren Strippenzieher? Weshalb reifen menschliche Körper bis zum 25. Lebensjahr und sind dann vor Zerfall gefeit?
So viele Fragen. Diese und viele weitere hätten dafür sorgen können, den Film auf dem hohen Niveau zu halten, auf dem er startet.
Nach den vielversprechenden ersten 40 Minuten und den ernüchternden 40 Minuten, die folgen, bestehen die restlichen 40 Minuten aus einer absolut inkohärenten Bonny-and-Clyde-meets-Robin-Hood-Wendung, die für sich genommen sicher ihren Reiz hätte, aber nicht in das vorher zusammengestellte Bild passt und vor allem viel zu lieblos hingeschludert wirkt. Wenn Zeitbanken derart leicht und stümperhaft um ihre Schätze gebracht werden können, wäre das im siedend heißen Ghetto, von dem erzählt wird, längst schon passiert.

Aus dem unaufgeregt spielenden Cast hervorstechen kann Cillian Murphy (28 Days Later, Tron: Legacy, Inception, The Dark Knight Rises), dessen kontrolliertes Gesicht vollkommen undurchschaubar ist und seinen Timekeeper-Charakter trotz verhältnismäßig kurzer Präsenz zum mit großen Abstand interessantesten und spannendsten des Sci-Fi-Filmes macht, da er sich bis  zum Ende einen Hauch von Ambivalenz und Doppelbödigkeit bewahren kann. Ein Talent, das dem Film selbst vollkommen abgeht.

Fazit

Starker Beginn, starker Abfall. Anstatt auf die faszinierende Prämisse und die etablierte Stimmung zu bauen, verheddert sich In Time – Deine Zeit läuft ab nach einer Weile in Plattitüden. Mit etwas mehr Mut wäre aus dem Film womöglich ein wirklich gutes Science-Fiction-Märchen mit philosophischem Anstrich geworden. So beginnt er als gelungene moderne Interpretation von Momo und stürzt dann auf fast schon tragische Weise in die Belanglosigkeit.