The Amazing Spider-Man

Direkt nach dem ersten eigenen Film, der dazu auch noch die Independent-Beziehungskomödie (500) Days of Summer ist, von Marvel gebeten zu werden, doch bitte den Reboot einer ihrer größten Franchises in die Hand zu nehmen, ist vermutlich Freud und Leid in einem.
Marc Webb sah sich mit der schweren Aufgabe konfrontiert, die gleiche Geschichte noch einmal zu erzählen, wohlwissend, Sam Raimi nicht übertrumpfen zu können und gleichsam mit dem Bewusstsein, der Ersatzmann zu sein, nachdem der geplante Spider-Man 4 mit Raimi und Maguire nach vielen Krämpfen seiner Produktionsgeschichte erlag.

Ready or not, here I come.

Story

Peter Parker wird früh und rätselhaft von seinen Eltern verlassen und fortan von Onkel Ben und Tante May großgezogen, die ihn lieben wie einen eigenen Sohn.
Mittlerweile an der  High-School, stößt Peter im Keller auf die Aktentasche seines alten Herren und kommt auf diesem Weg langsam an das Geheimnis des fluchtartigen Verschwindens seiner Eltern.
Die Recherche führt zu dem ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters Dr. Curt Connor, der sich damals wie heute mit artübergreifender Genetik befasst und damit die Regeneration verlorener Gliedmaßen am Menschen forcieren will. Zufällig ist Gwen Stacy, Peters Schulschwarm, dessen Assistentin und zufällig ist sie außerdem Tochter des Polizeichefs.
Und so kommt es, wie es kommen muss. Der unvorsichtige Peter wird von einer Spinne aus Connors Versuchsreihe gebissen und wird zum agilen Spinnenmann und Connor selbst pfuscht mit dem von Peter perfektionierten Serum rum und wird nicht nur wahnsinnig, sondern auch zum Lizard – ein hühnenhaftes Echsenwesen, dessen Körperteile im Zeitraffer nachsprießen.
Peter Parker muss nun Gewens Herz gewinnen, deren Vater überzeugen, dass Spider-Man ein herzensguter Kerl ist, die Stadt vor dem Lizard beschützen und nebenbei wichtige Heldenlektionen lernen.

Kritik

Nach einem etwas orientierungslos wirkenden Abschied des Stöpsels Peter von seinen Eltern geht’s direkt in die High-School, wo man erst mal schlucken muss, dass der perfekt gestylte Schönling Andrew Garfield einen Skateboard fahrenden Außenseiter spielt, der keinen Erfolg bei Frauen hat. Zudem er nicht nur niedlich ist, sondern auch noch ein toller Fotograf und überdurchschnittlich gescheit (subtil dargestellt unter anderem dadurch, dass er mehr Klempnerwissen als sein Onkel besitzt, automatische Türverriegler baut, einen gelösten Zauberwürfel auf seinem Schreibtisch stehen hat und googelt wie ein Profi).
Durch den nicht überraschend kommenden Spinnenbiss passiert vor allem eines: Peter wird noch cooler. Und was ihm passiert, wird witziger. Das muss man Webbs Version vom mutierten Streber lassen, ihr Humor ist kein sonderlich innovativer, aber er hat tolles Timing und so ist The Amazing Spider-Man erst einmal für lange Zeit sehr launig zu betrachten und hat sogar durchaus Züge eines Feel-Good-Movies, positive Melancholie verteilender Indie-Rock inklusive. Der Regisseur bleibt seinen – sehr jungen – Wurzeln also treu. Bis dann nach fast 45 Minuten das passiert, was in einem Film über Spider-Man passieren muss. Der gerade zum ersten Mal Beliebtheit schnuppernde Teenie mit Spinnensinn muss lernen, dass große Kraft auch große Verantwortung mit sich bringt. Und das durch ziemlich schluderig zurechtkonstruierten Fatalismus. Ziemlich willkürlich ist es übrigens, wann er mit seinen übermenschlichen Reflexen sogar Kugeln ausweichen kann und wann er fliegenden Projektilen hilflos ausgeliefert ist.
Dass sich vieles mit Raimies Spider-Man überschneidet, liegt wohl in der Natur der Sache, schließlich stützen sie sich auf dieselbe Vorlage. Trotzdem muss man sich gerade an diesen Stellen fragen, wo genau die Daseinsberechtigung dieses eigentlich zeitlich schon frech eng an der vorangehenden Trilogie liegenden Reboots liegt. Da ist es fast schon selbstironisch, wenn die Literaturprofessorin am Ende beteuert, es gäbe eigentlich nur einen einzigen Plot in der Erzählliteratur. Der Film versucht  in seinem eng abgesteckten Kreis des Möglichen aber anders  zu machen, was anders zu machen ist, und das auf eine Weise, die durchweg funktioniert.
Die Seilschwingeinlagen wirken viel realistischer, die Kämpfe dynamischer und der ganze Film ein wenig runder. Aber eben auch ein wenig glatter, weniger verspielt und oberflächlicher. Außerdem fehlen die kleinen Höhepunkte, die ein Raimi einfach so aus dem Handgelenk schüttelt und die ein Webb einfach (noch) nicht auf die Beine stellen kann. Bei ihm ist Größe häufig gleich mit Kitsch, wenn auch gerade noch in verträglicher Dosierung; zumindest bis zum etwas albernen Ende, wo alle Kranführer der Stadt ihr Arbeitsgerät auf wundersame Weise in der Stadt anordnen.  Außerdem fehlt seinem Spidey das Gespür für Verhältnismäßigkeit. Im Teil von 2002 kriegen Heldwerdung inklusive Sozialisierung, Familientragik und Antagonisten-Fehde ihren nötigen Raum, im Spider-Man des neuen Jahrzehnts geraten die Familie und der Feind ein wenig ins Hintertreffen, während der Rest des Filmes fast so wirkt, als sei er sich nie ganz sicher, wohin er möchte. Doch dabei wird es, zugegeben, niemals langweilig wird, auch wenn Andrew Garfield  bei weitem kein Tobey McGuire ist und Emma Stone keine Kirsten Dunst – Gwen Stacy ist hier aber auch wenig mehr als das anhimmelnde und auf Peters Befehle hörende Püppchen.
Allerdings ist die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft hier eine fast schon grotesk tragische Figur, so viel Schlimmes wird aus Nachlässigkeit und Zufall von ihr ins Rollen gebracht.
Wehrmutstropfen ist trotzdem die Echse als Gegenspieler, die einfach nicht mehr hergibt als unreflektierten Wahnsinn in Menschenform und Hulk-Ansätze im Schuppenkleid.

Fazit

Es hätte schlimmer werden können, deutlich schlimmer. Marc Webb ist es gelungen, einen eigenständigen Spider-Man auf die Leinwand zu bringen, der sich von Raimis Figur ausreichend stark abhebt und vor allem die Weichen in ganz neue Gefilde gelegt hat, die in den nachfolgenden Teilen hoffentlich ebenso souverän bereist werden.
Wenn Heldenmär und Menschenleid in The Amazing Spider-Man 2 dann noch etwas ausgewogener unter einen Hut zu kriegen sind, darf man sich durchaus freuen auf die neuen Abenteuer des neuen Peter Parker.

Mr. Nobody

Nach Toto der Held und Am achten Tag folgte 13 Jahre lang kein Film mehr vom belgischen Ausnahmeregisseur Jaco Van Dormael, der sich in der Zeit ganz dem Theater widmete. Mit Mr. Nobody lieferte er 2009 ein unerwartet mächtiges Comeback. Wieder handelt sein Film von Außenseitern und einschneidenden Erlebnissen. Trotzdem ist die in sich verschlungene Mischung aus Sci-Fi, Tragödie und Liebesfilm ganz anders als die oben genannten Arbeiten.

Es heißt, wenn man etwas langsamer atmet, vergeht die Zeit langsamer.

Story

Im Jahre 2092 ist der Tod besiegt und jeder hält sich ein possierliches Hausschwein. Ein 118 Jahre alter Mann ist der Letzte in einem sterblichen Körper und seine finalen Tage werden als große Reality-Show inszeniert. Während die Welt darüber abstimmt, ob man ihn eines natürlichen Todes sterben lassen oder sein Leben künstlich verlängern sollte, versucht sich der demente Herr seines Werdeganges zu entsinnen. Ein Hypnotiseur und ein Journalist wollen unabhängig voneinander zu seinen Erinnerungen durchdringen.
Er erzählt ihnen die Lebensgeschichte von Nemo Nobody. Doch eigentlich sind es viele Geschichten, viele Entwürfe eines Lebens, die vielleicht aber allesamt gelebt wurden. Er erzählt von einem Jungen, der die Gabe hat, in die Zukunft zu sehen. Er erzählt von Scheitern, Lieben, Verzweifeln, Reue und einer Mission auf dem Mars. Vor allem aber erzählt er von Entscheidungen und wie diese den Weg aller bestimmen. Er erzählt vom Schmetterlingseffekt.
Welches der Leben das tatsächliche von Nemo war oder ob er womöglich doch jede dieser parallelen Realitäten durchlebt hat und welchen Grund die scheinbar paradoxen Ausführungen des Greises haben, erschließt sich nur zaghaft im Verlauf seiner Retrospektiven.

Kritik

Nemo Nobody wird von zwei Darstellern verkörpert. Als 15-jähriger spielt ihn Toby Regbo, der das Leiden eines Kindes, das vor der vielleicht schwierigsten Entscheidung seines Lebens steht und dann mit deren Konsequenzen hadert, jederzeit kompetent begreiflich macht. Von diesem Punkt an entfalten sich drei Lebenskonzepte, die sich selbst an bestimmten Weichen wieder teilen und parallel zueinander weiterfahren. Die meiste Zeit begleitet der Film einen Nemo, der die 30 überschritten hat und von Jared Leto gespielt wird.
Egal, ob als brav frisierter Bewohner eines Vorort-Puppenhäuschens mit manisch depressiver Ehefrau, als lethargischer Neureicher im Villenviertel oder als zerschlissener Reisender – Leto schafft es, die drei unterschiedlichen Identitäten durch subtile Differenzierung und individuelle Feinheiten glaubwürdig darzustellen und wirkt dabei nur selten bemüht. Bedenkt man, dass er außerdem Nemo im Greisenalter mimt, lässt sich freiheraus behaupten, dass der Schauspieler hier seine bis dato herausforderndste und zugleich beste Rolle meistert. Das ausgefeilte Drehbuch sorgt indes dafür, dass jeder der möglichen Nemos auch seine Daseinsberechtigung hat. Alle tragen sie etwas Wichtiges bei, jeder ist ein weiterer notwendiger Baustein im Vexierbild Nemo Nobody, das sich in den 157 Minuten des Director’s Cuts nach und nach zusammensetzt.
Nicht ausschließlich perfekt, aber auch niemals störend werden Nemos drei Lebenspartnerinnen dargestellt. Einzig Diane Krugers Stimme wirkt sowohl auf der englischen wie auch auf der deutschen Tonspur häufig etwas fehl am Platz.
Das Aus- und Ineinandergleiten der zahlreichen Handlungsfäden wirkt immer flüssig und in sich kohärent, in einzelnen Fällen aber auch ein wenig zu beliebig. Hier macht es sich die Geschichte etwas zu einfach, da ihr durch die Prämisse des Filmes keinerlei Grenzen gesetzt sind und sie daher – ausreichend inszenatorisches Können vorausgesetzt – eigentlich gar nichts falsch machen kann.

Inszenatorisches Können ist hier aber auch das maßgebliche Stichwort. Mit welchem Einfallsreichtum hier Kleinigkeiten ins Bild gebracht werden, wie phantasievoll die Zerstreuung der Charaktere visualisiert und die Grenzen der Demenz inmitten der präsentierten Erinnerung eingebunden werden, ist unterhaltsam und bewundernswert zugleich. Bedeutungsstiftender Einsatz von Unschärfeeffekten, kunstvollen Parallelmontagen, dezenten Zeitlupen, einer Vielzahl unsichtbarer Schnitte, der wiederkehrenden Verwendung cleverer Match Cuts und fast schon ätherischen Szenenwechseln – Jaco Van Dormael schöpft nicht bloß gierig aus dem Repertoire filmischer Finessen, sondern schafft es auch, diese Werkzeuge sinnvoll und stilbewusst zu gebrauchen. Das Ergebnis ist ein Film, der trotz seiner komplexen Handlung und des hohen Anspruchs an sich selbst stets leichtfüßig und bekömmlich bleibt, da er nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf audiovisueller Ebene permanent zum Staunen einlädt. Da stört es keineswegs, dass man sich an jeder Ecke an die besten Werke Michel Gondrys erinnert fühlt.
Auch hier mag manch einer kritisieren wollen, dass die spielerische Art der Darstellung an vielen Stellen zu viel des Guten sei. Eigentlich bietet das Werk für diese Art der Anschuldigung aber zu wenig Angriffsfläche. Nicht nur, weil das Gesamtbild einfach formvollendet richtig wirkt, sondern auch, weil die Auflösung des Filmes seine Machart schlussendlich auf einleuchtende Weise rechtfertigt.
Bemerkenswert ist, wie das Gleichgewicht zwischen latenter Science-Fiction, verträumter Fantasy und Drama durchgängig beibehalten wird. Selbst der esoterische Optimismus, der immer wieder anklingt und kurz vor dem Abschluss einen größeren Auftritt hat, wirkt niemals störend oder krampfhaft dazu gepanscht.

Fazit

Mit seinem dritten Spielfilm liefert Jaco Van Dormael ein schillerndes Spiel mit Realitäten und Identitäten, das in kindlich-unschuldiger Weise existenzielle Fragen stellt und diese sogar mit entwaffnender Leichtigkeit zu beantworten weiß.
Mr. Nobody ist verspielt, romantisch, poetisch, kunterbunt und manchmal sympathisch naiv. Dass die Geschichte am Ende nicht in jedem Detail perfekt aufgeht und Van Dormael gelegentlich zu dick aufträgt, verzeiht man dem ambitionierten Epos mit Freuden.
Wie eine Kreuzung aus Forrest Gump und Michel Gondrys Science of Sleep, nur eben in einem beinahe durchsichtigen Sci-Fi-Gewand mit Platz für Raumschiffe und die Stringtheorie.