Mr. Nobody

Nach Toto der Held und Am achten Tag folgte 13 Jahre lang kein Film mehr vom belgischen Ausnahmeregisseur Jaco Van Dormael, der sich in der Zeit ganz dem Theater widmete. Mit Mr. Nobody lieferte er 2009 ein unerwartet mächtiges Comeback. Wieder handelt sein Film von Außenseitern und einschneidenden Erlebnissen. Trotzdem ist die in sich verschlungene Mischung aus Sci-Fi, Tragödie und Liebesfilm ganz anders als die oben genannten Arbeiten.

Es heißt, wenn man etwas langsamer atmet, vergeht die Zeit langsamer.

Story

Im Jahre 2092 ist der Tod besiegt und jeder hält sich ein possierliches Hausschwein. Ein 118 Jahre alter Mann ist der Letzte in einem sterblichen Körper und seine finalen Tage werden als große Reality-Show inszeniert. Während die Welt darüber abstimmt, ob man ihn eines natürlichen Todes sterben lassen oder sein Leben künstlich verlängern sollte, versucht sich der demente Herr seines Werdeganges zu entsinnen. Ein Hypnotiseur und ein Journalist wollen unabhängig voneinander zu seinen Erinnerungen durchdringen.
Er erzählt ihnen die Lebensgeschichte von Nemo Nobody. Doch eigentlich sind es viele Geschichten, viele Entwürfe eines Lebens, die vielleicht aber allesamt gelebt wurden. Er erzählt von einem Jungen, der die Gabe hat, in die Zukunft zu sehen. Er erzählt von Scheitern, Lieben, Verzweifeln, Reue und einer Mission auf dem Mars. Vor allem aber erzählt er von Entscheidungen und wie diese den Weg aller bestimmen. Er erzählt vom Schmetterlingseffekt.
Welches der Leben das tatsächliche von Nemo war oder ob er womöglich doch jede dieser parallelen Realitäten durchlebt hat und welchen Grund die scheinbar paradoxen Ausführungen des Greises haben, erschließt sich nur zaghaft im Verlauf seiner Retrospektiven.

Kritik

Nemo Nobody wird von zwei Darstellern verkörpert. Als 15-jähriger spielt ihn Toby Regbo, der das Leiden eines Kindes, das vor der vielleicht schwierigsten Entscheidung seines Lebens steht und dann mit deren Konsequenzen hadert, jederzeit kompetent begreiflich macht. Von diesem Punkt an entfalten sich drei Lebenskonzepte, die sich selbst an bestimmten Weichen wieder teilen und parallel zueinander weiterfahren. Die meiste Zeit begleitet der Film einen Nemo, der die 30 überschritten hat und von Jared Leto gespielt wird.
Egal, ob als brav frisierter Bewohner eines Vorort-Puppenhäuschens mit manisch depressiver Ehefrau, als lethargischer Neureicher im Villenviertel oder als zerschlissener Reisender – Leto schafft es, die drei unterschiedlichen Identitäten durch subtile Differenzierung und individuelle Feinheiten glaubwürdig darzustellen und wirkt dabei nur selten bemüht. Bedenkt man, dass er außerdem Nemo im Greisenalter mimt, lässt sich freiheraus behaupten, dass der Schauspieler hier seine bis dato herausforderndste und zugleich beste Rolle meistert. Das ausgefeilte Drehbuch sorgt indes dafür, dass jeder der möglichen Nemos auch seine Daseinsberechtigung hat. Alle tragen sie etwas Wichtiges bei, jeder ist ein weiterer notwendiger Baustein im Vexierbild Nemo Nobody, das sich in den 157 Minuten des Director’s Cuts nach und nach zusammensetzt.
Nicht ausschließlich perfekt, aber auch niemals störend werden Nemos drei Lebenspartnerinnen dargestellt. Einzig Diane Krugers Stimme wirkt sowohl auf der englischen wie auch auf der deutschen Tonspur häufig etwas fehl am Platz.
Das Aus- und Ineinandergleiten der zahlreichen Handlungsfäden wirkt immer flüssig und in sich kohärent, in einzelnen Fällen aber auch ein wenig zu beliebig. Hier macht es sich die Geschichte etwas zu einfach, da ihr durch die Prämisse des Filmes keinerlei Grenzen gesetzt sind und sie daher – ausreichend inszenatorisches Können vorausgesetzt – eigentlich gar nichts falsch machen kann.

Inszenatorisches Können ist hier aber auch das maßgebliche Stichwort. Mit welchem Einfallsreichtum hier Kleinigkeiten ins Bild gebracht werden, wie phantasievoll die Zerstreuung der Charaktere visualisiert und die Grenzen der Demenz inmitten der präsentierten Erinnerung eingebunden werden, ist unterhaltsam und bewundernswert zugleich. Bedeutungsstiftender Einsatz von Unschärfeeffekten, kunstvollen Parallelmontagen, dezenten Zeitlupen, einer Vielzahl unsichtbarer Schnitte, der wiederkehrenden Verwendung cleverer Match Cuts und fast schon ätherischen Szenenwechseln – Jaco Van Dormael schöpft nicht bloß gierig aus dem Repertoire filmischer Finessen, sondern schafft es auch, diese Werkzeuge sinnvoll und stilbewusst zu gebrauchen. Das Ergebnis ist ein Film, der trotz seiner komplexen Handlung und des hohen Anspruchs an sich selbst stets leichtfüßig und bekömmlich bleibt, da er nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf audiovisueller Ebene permanent zum Staunen einlädt. Da stört es keineswegs, dass man sich an jeder Ecke an die besten Werke Michel Gondrys erinnert fühlt.
Auch hier mag manch einer kritisieren wollen, dass die spielerische Art der Darstellung an vielen Stellen zu viel des Guten sei. Eigentlich bietet das Werk für diese Art der Anschuldigung aber zu wenig Angriffsfläche. Nicht nur, weil das Gesamtbild einfach formvollendet richtig wirkt, sondern auch, weil die Auflösung des Filmes seine Machart schlussendlich auf einleuchtende Weise rechtfertigt.
Bemerkenswert ist, wie das Gleichgewicht zwischen latenter Science-Fiction, verträumter Fantasy und Drama durchgängig beibehalten wird. Selbst der esoterische Optimismus, der immer wieder anklingt und kurz vor dem Abschluss einen größeren Auftritt hat, wirkt niemals störend oder krampfhaft dazu gepanscht.

Fazit

Mit seinem dritten Spielfilm liefert Jaco Van Dormael ein schillerndes Spiel mit Realitäten und Identitäten, das in kindlich-unschuldiger Weise existenzielle Fragen stellt und diese sogar mit entwaffnender Leichtigkeit zu beantworten weiß.
Mr. Nobody ist verspielt, romantisch, poetisch, kunterbunt und manchmal sympathisch naiv. Dass die Geschichte am Ende nicht in jedem Detail perfekt aufgeht und Van Dormael gelegentlich zu dick aufträgt, verzeiht man dem ambitionierten Epos mit Freuden.
Wie eine Kreuzung aus Forrest Gump und Michel Gondrys Science of Sleep, nur eben in einem beinahe durchsichtigen Sci-Fi-Gewand mit Platz für Raumschiffe und die Stringtheorie.