Die Stadt der verlorenen Kinder

Niemand in Frankreich, vielleicht niemand in ganz Europa, hat eine so unverkennbare Handschrift wie Jean-Pierre Jeunet. Von Delicattessen über Die fabelhafte Welt der Amélie bis hin zu Die Karte meiner Träume blieb er seinem Vexierblick auf seine ganz eigene Art von Universum treu.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist sein zweites Werk, aus dem Jahr 1995, bei dem Marc Caro noch eng an seiner Seite war.

Die besondere Last der Einsamkeit bleibt niemandem erspart.

Story

One ist ein gutmütiger Riese, der mit der Weisheit eines Einfältigen seinen massigen Körper dafür nutzt, vor Publikum mit kleinen Zirkusnummer die Muskeln spielen zu lassen. Als sein kleiner Bruder gekidnappt wird, begibt er sich auf die Suche. Unter einer Gruppe von Waisenkindern, die zu kleineren Raubzügen gezwungen werden, findet er das flinkzüngige Mädchen Miette, das beschließt, gerührt von seinem Vorhaben, ihn bei der Suche zu unterstützen.
Die Spur der nicht abbrechenden Reihe von Kindesentführungen führt zu einer entlegenen Bohrinsel, wo ein seelenloser Wissenschaftler, eine Gruppe aus Klonen, eine Zwergin und ein sprechendes Gehirn ihre Spielchen mit der Welt und miteinander treiben.

Kritik

Was sich bei Delicatessen schon abzeichnete, erhält nun ganz unverhüllt Eintritt in die Filmwelt von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro. Es ist, als entführe man Terry Gilliam (Brazil, The ZeroTheorem), um mit dessen Hilfe und drei Jugendlichen ein französisches Ungeheuer zu erschaffen. Das kann kaum gutgehen, tut es hier aber.
Ron Perlman, kluge Leute behaupten, einer der schlechtesten Schauspieler aller Zeiten, spielt einen Russen, der aussieht wie ein irischer Kugelstoßer aus dem Hause Frankenstein. Dass der Film es bewerkstelligt, den amerikanischen Riesen Perlman als den am zurückhaltendsten agierenden Darsteller des ganzen Ensembles aufzuführen, ist für sich schon eine erstaunliche Leistung, zu gleichen Teilen aber auch eine ungemein präzise Aussage darüber, was man hier zu sehen bekommt.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist ein ungeordneter Tummelplatz wirrer Ideen, die in ihrer Aneinanderreihung erst einmal beliebig wirken. Ein irrlichternder Soundtrack, der für das verantwortliche Duo typische Aquarium-Grünstich, zum Horizont reichende Selbstbaukulissen und eine Vorliebe für den Fischaueneffekt verbunden mit skurrilem Overacting, das amoklaufende Stereotypen gebiert, die derart überzogen sind, dass sie in ihrem unkontrollierten Schaulauf schon wieder hypnotisch wirken, vermischen sich zu einem Schaum des überbordenden Wahns. Lässt man dem Film seine Zeit, entfaltet sich nach und nach aber ein Kosmos, der mit jeder Sekunde anschwillt, besser funktioniert und in sich schlüssiger wirkt. Wie ein Motor muss sich dieses südeuropäische Kuriosum erst einmal warmlaufen. Hat man ihm aber diesen Vorlauf gelassen, darf man staunen, wie einzigartig diese Maschine schnurrt – und wohin sie einen bringt.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist das, was passiert, wenn ein Zirkus explodiert.

Ausstattungstechnisch stapft man durch eine Mischung aus Raumpatrouille Orion, Siebenstein und einer Kopie von The Zero Theorem, Schafft mit Detailversessenheit und Maßlosigkeit aber eine unverkennbare Welt voller Eigenheiten, die bei ihrer erschlagenden Vielfalt immer homogen wirkt, wenn auch nicht immer auf eine angenehme Weise. Irgendwann verliert die Eigenlogik dieser Welt aber ihre abstoßende Wirkung und man gehört als Zuschauer auf eine Weise dazu, die man 10 Minuten vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die alles auf die Karte des kompletten Irrsinns setzen, und dadurch mit fortschreitender Dauer nur noch angestrengt und steif wirken, gelingt dem Werk das kaum Erreichbare, indem es tiefer und logischer wird, weil der ganze Unsinn eben doch nicht so willkürlich zusammengerührt wurde, wie es beim ersten Hinschauen noch scheinen mag. Die Stadt der verlorenen Kinder ist der erwähnte Zirkus, aber auch ein Aquarium, das man sowohl vollstopft mit perlenbeinhaltenden Muscheln als auch bis zum Rand mit Algen füllt.

Dominique Pinon, der hier eine ganze Heerschar an Figuren mimt, gibt dabei die enthemmteste und überdrehteste Leistung seiner Karriere ab und dürfte gleich zu Beginn der abschreckendste Einfall des ganzen Filmes sein, wie der Rest des Filmes ergibt aber auch sein überbordendes Spiel nach einer Weile Sinn. Trotz der allgegenwärtigen Verfremdung und den märchenartigen Figuren ist Die Stadt der verlorenen Kinder keineswegs ein Kinderfilm, stellen ein paar perfide Szenen klar, dass die Zielgruppe viel mehr der etwas wunderliche Erwachsene aus dem benachbarten Hexenwäldchen ist. Einen solchen Film in so konsequente Weise zu machen, wäre auch heute noch ungeheuer mutig. Die gesamte Produktion mit ihrem für die Zeit verblüffend guten Spezialeffekten, zu denen auch schon Computeranimationen zählte, unter denen lediglich ein hypnotischer grüner Rauch mit seiner comicartigen Darstellung hervorsticht, kostete allein bei der Umsetzung immerhin 18 Millionen Dollar.

Fazit

Lässt man der versteckten Struktur Zeit, sich zu offenbaren, dann betritt man, mit einem Bein im Surrealen watend, eine höchst befremdliche Wunderkiste voll mit Schrulligkeiten und einer fiebertraumartiger Atmosphäre.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist ein märchenhaftes Ausstattungswunder, das vor guter Ideen nur so sprudelt und dabei keine Rücksicht auf den Zuschauer nimmt.

Der Erfolg des Filmes ließ Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro in der Science-Fiction bleiben. Jeunet drehte direkt im Anschluss Alien – Die Wiedergeburt, Monsieur Caro hingegen ließ 13 Jahre bis zu seinem nächsten Projekt Dante 01 verstreichen.
Beides sind Filme von eher zweifelhaftem Ruf.

Dante 01

Die Kannibalismusgroteske Delicatessen machte die Werbefilmer Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro vor über 20 Jahren über Nacht zu Weltstars. Nach ihrem zweiten gemeinsamen Langfilm Die Stadt der verlorenen Kinder gingen die Franzosen dann weitestehend getrennte Wege. Jeunet begann mit der Arbeit an Alien – Die Wiedergeburt und brachte damit eine ganze Generation gegen sich auf. Mit seinem Nachfolgefilm Die fabelhafte Welt der Amélie erreichte er dann aber Unsterblichkeit und Mathilde – Eine große Liebe sowie Micmacs – Uns gehört Paris! bestätigten seine Führungsposition im Bereich des schrägen und doch wunderschönen Films.
Um seinen ehemaligen Kollegen Marc Caro blieb es hingegen lange Zeit sehr still. Bis er sich 2008 unerwartet mit der Science-Fiction-Parabel Dante 01 zurückmeldete.


Story

Hoch über dem Planeten Dante, irgendwo in den Weiten des Alls, schwebt die Raumstation Dante 01. Wahnsinnige Schwerverbrecher können sich freiwillig dafür melden, in diese Anstalt verlegt zu werden, um so ihrer Hinrichtung zu entgehen. Dort können sie sich in einem Netzwerk aus kahlen Räumlichkeiten frei bewegen, ihren Alltag selbstständig strukturieren und eine eigene Hierarchie aufbauen. Der hohe Preis für diese relative Freiheit ist, dass ein Team von Wissenschaftlern nach Lust und Laune Versuche mit ihnen durchführen darf.
Eines Tages betritt eine neue Wissenschaftlerin die Bildfläche und sät mit ihren moralisch fragwürdigen Prinzipien Zwietracht im Team. Auch der Alltag der Gefangenen gerät durcheinander, als sie ebenfalls einen Neuzugang verzeichnen. Es ist ein schweigsamer Namenloser, der ihre Reihen erweitert und mit seinen mysteriösen Taten alsbald schwerwiegende Veränderungen provoziert. Obwohl er oberflächlich lethargisch und lammfromm zu sein scheint, schlummert doch ein rätselhaftes Geheimnis in ihm. Das vormals schon sehr angespannte Verhältnis zwischen und in den Gruppen verschlechtert sich zusehends, während die Merkwürdigkeiten sich häufen.

Kritik

Als erstes ins Auge fällt Caros unverwechselbarer Stil. Ihm ist es zu verdanken, dass die Optik von Delicatessen einst so ästhetisch und doch gleichermaßen bedrohlich ausfiel und genau das ist auch bei Dante 01 der Fall. Die Welt der Gefangenen ist in ein schummriges Dunkelgrün getaucht, die Räumlichkeiten der Forscher präsentieren sich in kühlem Blau. Sämtlichen Bildern gemein ist eine aufsässig unruhige Kamera und viel finsterer Schatten. Dass alle Gefangenen kahlköpfig und uniformiert sind, erleichtert die Orientierung keinen Deut. Während die wenigen Außenaufnahmen der über dem kochenden Planeten Dante schwebenden Station durchaus gelungen sind, lassen sich die andauernden Kamerafahrten durch die Blutbahnen der Inhaftierten, an denen wieder mal ein neues Mittel getestet wird, nur als hässlich bezeichnen. Es sind optische Sperenzchen, so hektisch wie der Rest des Films, die zum reinen Selbstzweck verkommen und letztlich nicht mehr als eine weitere unnötige Tempovariation zum Gesamtwerk beisteuern.
Die ganze Filmhülle gibt sich sehr hip, sehr europäisch und befindet sich stets an der Grenze zum Experimentellen.
Wirft man einen Blick auf das Innere, wird einem rasch gewahr, dass all die Bemühungen, Aufmerksamkeit zu erheischen, all die Ambitionen, etwas enorm Wichtiges mitzuteilen, ausnahmslos im Sande verlaufen. Dante 01 ist vollgepumpt mit Symbolen, derer sich eines plumper und aufdringlicher gibt als das andere. Sämtliche Charaktere sind mit bedeutungsschwangeren Namen betitelt. So bewegen sich unter anderem Moloch, Lazarus, Buddha und Persephone über die Station, den unheimlichen Neuankömmling schmückt eine bedeutungsschwangere Tätowierung vom Heiligen Georg und die titelgebende Station hat die Gestalt eines gigantischen Kreuzes.
All dieser Bemühungen zum Trotz bleibt der Film jedoch ernüchternd hohl – die dürre Geschichte, die er erzählen möchte, wird durch die Hast der Kamera und die wirre Erzählweise unnötig verkompliziert, kommt im Kern aber nie über den einschläfernden Grundkonflikt hinaus. Inhaltlich speziell möchte Dante 01 durch seine esoterische Linie sein. Schnell wird klar, dass die ganze Mogelpackung auf eine ungelenke Erlösergeschichte hinausläuft, die sich am Ende erwartungsgemäß auch redlich Mühe gibt, möglichst viele Assoziationen mit 2001 – Odyssee im Weltraum zu wecken, dabei aber niemals eine eigene Klasse erreicht. Dass alle Charaktere sich auf eine einzige Eigenschaft reduzieren lassen, während sie in allen anderen Punkten vollends austauschbar sind, macht die Sache nicht interessanter.
Es fehlt dem Science Fiction-Film zudem eine taugliche Identifikationsfigur. Keiner der Reißbrettcharaktere ist sympathisch, alle wirken sie schräg und handeln vor allem furchtbar irrational. Ihr Tun bleibt durchgängig wenig nachvollziehbar und unverständlich aggressiv, die Dialoge beeindrucken mit erschreckend konsequenter Ideenlosigkeit.
Auch der gesamte soziale Mikrokosmos wirkt inkonsistent und wenig durchdacht – dem anarchischen Status quo, in dem alle gegeneinander intrigieren, mangelt es allseits an Überzeugungskraft.

Fazit

Marc Caros heißersehntes Revival ist eine herbe Enttäuschung. Sein erstes eigenes Werk ist ein exzentrisches B-Movie in leidlich interessanten Bildern, das genauso skurril wie anstrengend ist. Was bleibt, ist ein phasenweise schmuckes Setting, das weitestgehend überflüssig bleibt. Dante 01 hätte nämlich ebenso gut unter der Erde oder auf dem Meeresboden spielen können, seine Verortung im Weltraum ist genauso Augenwischerei wie die übrigen Bestandteile.