Das zehnte Opfer

Wie die meisten Filme Elio Petris ist auch Das zehnte Opfer ein zu Unrecht vergessener Klassiker, welcher nicht nur wegweisende Impulse des Science-Fiction-Kinos vorwegnahm, sondern auch damit glänzen kann, auch heute noch ungetrübtes Vergnügen zu bereiten.


Leben Sie gefährlich, aber gesetzestreu.

Story

Abbau allgemeiner Aggression mit wirtschaftlichem Zugewinn. Mit der Erfindung einer Spielshow namens „Die große Jagd“ werden per Losverfahren eines Supercomputers in Genf Jäger- und Opferrollen an die Mitspieler verteilt. Jedem Jäger wird ein Opfer zugeteilt, welches es zu töten gilt. Die Aufgabe des Opfers ist nicht nur, zu überleben, sondern auch seinen Jäger zu identifizieren und dann selbst zum Jäger zu werden. Der Überlebende kommt in die nächste Runde. Gewinner ist, wer am Ende 10 Opfer auf dem Gewissen hat. Er wird Dekaton – ihm werden höchste Ehren zuteil. Eine Million Dollar gibt es obendrauf.
Betrachtet wird das Spektakel von Zuschauern aus aller Welt auf ihren TV-Bildschirmen.
Mit Carlonie Meredith (Ursula Andress, James Bond jagt Dr. No) und Marcelle Poiletti (8 1/2) stoßen in Rom zwei Kontrahenten aufeinander, die beide höchste Siegeschancen haben.
Und das Katz-Und-Maus-Spiel durch die Großstadt beginnt.

Kritik

Elio Petri war eigentlich immer auf irgendeine Weise revolutionär, trotzdem ist der linke Filmemacher in Deutschland nahezu vollkommen unbekannt.In diesem Fall: Eine dystopische Mediensatire, die davon erzählt, dass sich Menschen gegenseitig für die Einschaltquoten meucheln – noch lange vor Stepen Kings Todesmarsch (1982), dessen Verfilmung Running Man (1987, mit Arnold Schwarzenegger) und der traurigen Reality-TV-Realität, in der wir heute darben (2015, auch mit Arnold Schwarzenegger).
Nur dass Das zehnte Opfer vom Grundton her ein ganz offen ausgelassener Film ist, der mit exzentrischen Figuren (der Moderator der Show erinnert an Salvador Dali), grooviger Musik zwischen Strand- und Agentensoundtrack, kauzigen Teilnehmern und eigenwilligen Ideen, die Reih um Reih aus der Diegese tänzeln, zwar ein nihilistisches Zukunftsbild zeichnet, diese Zukunft aber nicht fürchtet, freiheraus belächelt. Nicht umsonst bediente sich z.B. Austin Powers ganz offen an Petris Sci-fi-Farce.
Inhaltlich stellt sich diese Entscheidung als weise heraus, denn nur so können das absurde Potenzial der zugrundeliegenden Idee und die bizarren Auswüchse gesellschaftlichen Verlangens dargestellt werden, ohne dass nicht sie lächerlich wirken, sondern der Film selbst.
Die meisten Witze speisen sich aus in Absurde getriebenen Übersteigerungen kultureller Phänomene. Ramsch ist teuer, Kunst so abstrakt, dass sie lächerlich wirkt und Mode bis zum Gähnen exzentrisch. Das etwas Überraschende: Dieser Humor steht der Groteske gut zu Gesicht, die lebt von ihren wilden schillernden Einfällen.
Wirklich beachtenswert ist der inszenatorische Einfallsreichtum des knallbunten Films. Besonders die elaborierte Splitscreen-Technik, die in dieser Form eigentlich noch gar nicht etabliert war, bleibt nachdrücklich als prägendes Merkmal im Gedächtnis.
Wie in den meisten Dystopien der 70er passiert das verachtenswerte Spektakel, um den Aufstand der großen Massen zu verhindern, weil durch die öffentliche Hinrichtung mit Spielcharakter – Heil Cäsar! – jedes Verlangen nach Gewalt befriedigt werden soll. Kopf der Sache ist ein Supercomputer in Genf, der atonal und mechanisch-stockend die Namen von Opfern und Tätern verliest.THX 1138 lässt grüßen.

Manchmal treibt der Stilregen von Das zehnte Opfer es aber auch zu bunt. Gerade die Omnipräsenz des Gedudels und Geklimpers, die anfangs noch sehr cool ist, zerrt dann und wann an den Nerven, was gerade dann auffällt, wenn der Film sie kurz weglässt.
Auch braucht man eventuell ein wenig, um seinen ganz persönlichen Gefallen an dem Film zu finden. Denn vor allem in der ersten Hälfte ist die eigentliche Erzählung nur mäßig spannend. Stattdessen sind es die kuriosen Triebe der verrohten Gesellschaft in ihrem funkelnden Putz, für die sich der Film immer wieder tolle Möglichkeiten ausdenkt, in Erscheinung zu treten. Ironischerweise ist es die Lust am Schauen, die das Gefallen lange Zeit lotst – in einem Film, der genau dieses Sensationsverlangen anprangert.
Im letzten Viertel nimmt dann aber auch die Handlung plötzlich rasant an Fahrt auf und wartet mit einer weiteren Sache auf, die 1965 keinesfalls der Normalfall gewesen ist: Einem ganzen Festtagsumzug an Storytwists.

Fazit

Das zehnte Opfer ist Film, bei dem vor allem das Entdecken und Schauen Spaß bereitet, während die Geschichte selbst erst recht spät Spannung entwickelt. Neben der schillernden Art, die Zukunft mit vielfachem Augenzwinkern zu erdenken, ist gar nicht genug hervorzuheben, wie frisch sich der frühe Science-Fiction-Film gehalten wird, wie bitterböse zynisch sein Subtext ist und wie richtungsweisend die technische Ausführung.